Heidelberger Kunstverein

Gabriel Rossell Santillán

11 Jul - 06 Sep 2015

Gabriel Rossell Santillán, Quemado, Videostill, 2013
DAS LICHT SCHIEN IN DIE DUNKELHEIT UND DIE DUNKELHEIT MERKTE ES NICHT

In der Reihe ›Das Serendipitätsprinzip‹ präsentiert der Heidelberger Kunstverein eine Installation des mexikanischen Künstlers Gabriel Rossell Santillán.

›Serendipität‹ bezeichnet eine Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue Entdeckung erweisen kann. Anders als der Zufall betont die Serendipität über das alleinige Aufspüren hinaus eine Auseinandersetzung mit eben jener Neuentdeckung, die einen neuen Weg in sich birgt.

Liebe Susanne,

Ende 2012 nahm ich an einer außergewöhnlichen Versammlung der indigenen Wirráritari in Santa Catarina im Nordosten von Mexiko teil. Kanadische Minenunter-nehmen hatten anhand von Satellitenaufnahmen unter der heiligen Wüste und den Bergen Gold entdeckt und sich beim mexikanischen Staat die Rechte erworben, das Gold in den Bergen abzubauen. Alarmiert von den Geschehnissen initiierte die Wirráritari-Gemeinde eine Versammlung mit rund 500 Mitgliedern:
Gemeinsam sollte darüber entschieden werden, wie man sich angesichts dieser Bedrohung verhält. Bereits 2005 hatte ich den Besuch von Xaureme und Dionisio – Vertreter der Wirráritari Santa Catarinas – im Ethno-logischen Museum in Berlin-Dahlem organisiert.

Ich erstellte Filmaufnahmen von Zeremonialobjekten der Wirráritari, die der Ethnologe Konrad Theodor Preuss von 1905 bis 1908 nach Berlin gebracht hatte, und brachte dieses Rohmaterial wiederum nach Santa Catarina. Gemeinsam mit dem Schulleiter der dortigen Grund-schule – Xaureme – ersetzte ich zunächst in einem Video meine Sprecher-Stimme durch seine und wir fügten Material ein, auf dem er über die Probleme in Santa Catarina sowie den anderen Teilen des Gebirges berichtet: über die Staudämme, staatliche Bildung, Gefängnisse und die Schaffung einer politischen Teilung nach westlichem Muster auf dem Gebiet der Wirráritari-Gemeinde, um nur einige zu nennen. Nach einiger Zeit schloss sich Dionisio, der 96-jährige Marakame (Schamane), uns an und brachte seine Erfahrungen in den Prozess mit ein.

Teil der Debatte bildet auch die Frage, welche Haltung man in Hinblick auf westliche Wissensproduktion, wie die Natur- und Geisteswissenschaften und Kunst einnimmt. Ich begann Video- und Audiokurse in der Grundschule zu geben, wurde weiterhin zu Zeremonien und Vorstellungen eingeladen und es entwickelte sich zwischen uns eine intensive Freundschaft. Mitya, ein Freund aus Berlin, lieh mir eine russische Analogkamera aus dem Jahr 1908 – also aus der Zeit der Sammlung Konrad Theodor Preuss –, mit der man Bilder im Format 6 × 9 machen kann. Die Kamera ist ideal für die widrigen klimatischen Bedingungen der Gebirge. Meine Freunde der Gemeinde Wirráritari baten mich stets darum, Porträts von ihnen oder Fotos von Pflanzen, Wasserquellen und Bergen – also den grundlegenden Bildern ihres Bezugs-systems zu machen. Durch diesen Prozess entstand ein einzigartiges Dokument, bestehend aus hunderten von Fotos, auch einige von den Zeremonien – wobei die Bedingung war, dass einer von den Wixás mir den Auftrag gab, die Fotos zu machen. Später wurde entschieden, dass die Bilder digitalisiert und Teil einer Bibliothek werden sollten – so wie das Video mit den Aufnahmen von den Zeremonialobjekten in Dahlem, das mit Xaureme und Dionisio besprochen, erweitert und geschnitten wurde. Wir legten auch gemeinsam fest, welche Fotos man außerhalb der Wixáritari-Gemeinde zeigen kann oder welche man verkaufen darf. Der Erlös dient z. B. dem Bau der Bibliothek, einer Baumschule für lokale Eichen oder einem Hirschgehege. Dieser Prozess war und ist eine Herausforderung, da stets sichtbar wird, inwiefern koloniale Strukturen in mir selbst existieren – beispiels-weise das geistige Eigentum oder die Funktionsweise der Autorenschaft. Die kollektive Arbeit besteht somit zu einem großen Teil aus einer ständigen Auseinandersetzung mit den Privilegie und Machtstrukturen sowie den daraus resultierenden Hierarchien. Der Entschluss, gegen diese Mechanismen zu arbeiten, findet auch Einfluss in die Entscheidungen darüber, wie Bilder gezeigt und montiert werden.

Ich umarme Dich,
Gabriel

Gabriel Rossell Santillán (*1977 in Mexiko-Stadt) setzt sich in seiner Arbeit mit der Transformation kulturellen Wissens auseinander. Bei seinen Reisen durch Mexiko geht er auf die Suche nach kulturellen Überlieferungen, die wenig beachtet oder fast vergessen wurden. In Fotografien und Videoinstallationen überführt er die gefundenen Inhalte in die Gegenwart und stellt so einen alternativen Kanon der (Welt-) Geschichte her. In seinen Arbeiten wird immer wieder die komplexe Verstrickung der Dinge in historische Prozesse thematisiert: Und genau um diese Etablierung einer nichtlinearen und dezentralen Geschichtsschreibung geht es Gabriel Rossell Santillán. Das Archiv seiner Forschungen in Mexiko und in ethnologischen Museen birgt eine endlos erscheinende Fülle von Bild- und Tonaufnahmen.
 

Tags: Gabriel Rossell Santillán, Susanne Weiß