Daniel Buchholz

Elie Nadelman

20 Mar - 25 Apr 2015

© Elie Nadelman
installation view Galerie Buchholz, Berlin 2015
ELIE NADELMAN
20 March – 25 April 2015

Die Galerie Buchholz freut sich, ihre erste Einzelausstellung mit Gips- und Pappmachéskulpturen sowie Arbeiten auf Papier von Elie Nadelman (1882 Warschau–1946 New York) anzukündigen. Es handelt sich hierbei um die erste Einzelausstellung Nadelmans in Deutschland seit seiner Ausstellung in der Berliner Galerie Flechtheim im Jahr 1923.

Auszug aus: Klaus Kertess, “Child's Play. The Late Work of Elie Nadelman“, in: Artforum International, März 1985, XXIII, Nr. 7, S. 64–67:

“[D]er Börsencrash von 1929 setzte nicht nur dem atemberaubenden Glamour ein Ende, zu dessen Ritualisierung Nadelman beigetragen und den er zuweilen persifliert hatte, sondern auch dem fürstlich-bohemistischen Lebensstil des Künstlers selbst. Der Verlust des Vermögens seiner Ehefrau und der Rückgang von Aufträgen und Verkäufen seiner Arbeiten machten den Luxus kostbarer Materialien wie Marmor und Bronze und die Beschäftigung hoch qualifizierter Assistenten unmöglich. Um nicht auf Armenspeisungen angewiesen zu sein, musste Nadelman sein Atelier in einem Manhattener Townhouse verkaufen und sich in sein viktorianisches Landhaus mit angeschlossenem Atelier in Riverdale zurückziehen, in dem er einen Brennofen einbauen ließ und von nun an vor allem Skulpturen aus Terrakotta schuf. Nach 1930 zog er sich aus dem offiziellen Kunstbetrieb zurück und lehnte die meisten Einladungen zu Gruppen- und Einzelausstellungen ab. 1935 sah sich Nadelman gezwungen, große Teile seiner Sammlung europäischer und amerikanischer Kunsthandwerks- und Volkskunstgegenstände zu verkaufen und schließlich auch sein Atelier sowie seinen Brennofen aufzugeben (er gilt als einer der ersten Kenner und Sammler von Amerikana). Von 1935 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 arbeitete er in einem Hinterzimmer seines Hauses und konzentrierte sich vor allem darauf, etwa 500 (wenn nicht mehr) Plastilinfigürchen zu modellieren, die anschließend mittels fachkundig hergestellter Formen in Gips gegossen wurden. Einige Hundert dieser Figuren befinden sich heute wie Gespenster in jenem Hinterzimmer auf Tischen aufgereiht. Auch wenn der plötzlich verarmte Dandy über den Verlust seines Vermögens bestürzt gewesen sein mag, weigerte er sich doch hartnäckig, sich einer finanziellen oder mentalen Depression zu beugen.

Nadelmans Gipsskulpturen ergaben sich weniger aus seinen gezwungenermaßen beschränkten Mitteln als vielmehr aus seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der griechischen Plastik sowie aus seinem weit gefächertem Interesse an Volkskunst und Kunsthandwerk, das hochwertigen Einzelstücken ebenso wie massengefertigtem Kitsch galt. Nadelman lehnte als Künstler die Entfremdung und Spezialisierung der Moderne ab; da er höchsten Respekt vor dem Handwerk und der für ihn immer noch gültigen griechischen Kultur hatte, sah er auch keinen Widerspruch zwischen „hoher“ und „niedriger“ Kunst. Bei seinem Besuch der Stadt München im Jahr 1904 war er gleichermaßen von den Puppen im Bayerischen Nationalmuseum wie von den griechischen Skulpturen in der Glyptothek hingerissen. Seine eigene Kunstsammlung umfasste sowohl europäische und amerikanische Puppen als auch Spielzeug wie Miniatur-Scherenschnitte und gusseiserne Parkbänke.

In seinem Spätwerk orientierte sich Nadelman nicht mehr an den klassischen Giebelskulpturen des Aphaia-Tempels auf Ägina, von denen die verfeinerte Harmonie und Klarheit vieler seiner frühen Porträtbüsten (um 1910) beeinflusst waren, sondern an dem eher barocken Fluss der Falten und Kurven, wie man ihn in der hellenistischen Skulptur findet – insbesondere in den vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr. entstandenen (und in den 1870er Jahren erstmals ausgegrabenen) Tanagra-Figuren. Diese puppenartigen Figuren dienten als preiswerte häusliche Votivgaben der örtlichen Bevölkerung. Neben Göttern und Göttinnen stellten sie häufig Tänzerinnen, Artistinnen und Frauen in vertraulichem Gespräch dar – allesamt Motive, die auch Nadelman schätzte.

In einer früheren Terrakotta-Vierfigurengruppe mit dem Titel “Die vier Jahreszeiten“ (ca. 1912) übernahm Nadelman die für die Tanagra-Figuren charakteristischen schlank-überlängten Proportionen und kannelierten Falten, während diese Eleganz bei später entstandenen Gipsfiguren zunehmend einer gewissen Fülligkeit sowie großen Köpfen weicht, wie man sie häufig bei Spielzeugpuppen (aber auch bei Putten) vorfindet. Man könnte auch sagen, dass die von den 1930er bis in die 1940er Jahre entstandenen Skulpturen zunehmend jünger werden und sich von sittsamer Reife in Richtung einer erregten frühreifen Pubertät wandeln. Die Chronologie dieser Progression/Regression bleibt hierbei eher diffus, da Nadelman dazu neigte, auf ältere Arbeiten zurückzugreifen und diese nochmals auszuführen, und kaum eine seiner Skulpturen datierte (oder betitelte).

Nadelman hatte ursprünglich vor, seine Figuren als preiswerte Editionen gießen zu lassen; dieser Plan aber wurde niemals umgesetzt – möglicherweise kam er zu spät, möglicherweise zu früh. Dass er die Gipsskulpturen dennoch als eigenständige und vollendete Arbeiten betrachtete, zeigen die Bleistiftzeichnungen und Ausfeilungen, die sich häufig auf den einzelnen Figuren finden, aber auch der gelegentliche Firnisauftrag auf ihrer Oberfläche. Wenn Nadelman mehrere Figuren mittels einer einzigen Gussform herstellte, wurde in der Regel jede von ihnen individuell nachbearbeitet. Als geschickter Handwerker, der die verhältnismäßige Beständigkeit von Marmor, Bronze und Holz so souverän beherrschte, nutzte er nun fast ausschließlich die poröse Vergänglichkeit des Werkstoffs Gips.

Der Umgang mit Gips war Nadelman nur allzu vertraut. Beinahe sein ganzes Künstlerleben lang arbeitete er mit 1:1-Gipsmodellen, die zunächst als Vorläufer und später als geisterhafte Repliken der endgültigen Arbeiten aus Marmor, Holz oder Bronze dienten. Nadelman ging es bei den Gipsskulpturen nicht in erster Linie um eine spezifische Technik, vielmehr wurden sie ebenso wie die mit ihrer Hilfe geschaffenen Skulpturen in den Dienst der abstrakten formalen Harmonie und der Wiedergabe von Volumen gestellt. Während Nadelman danach strebte, den Schwerpunkt seiner Formen mit dem Schwerpunkt ihres Materials zu vereinen, war er ebenso wenig wie einst die Griechen von Materialtreue oder Offenlegung von Techniken besessen. So wie diese es einst für angebracht hielten, Marmor zu bemalen, bemalte Nadelman Bronze und zeichnete er mit Bleistift auf Gips. Nun aber, da Gips vom Modellwerkstoff zum Material des Endproduktes aufgewertet worden war, nutzte Nadelman zunehmend Materialien und Techniken dazu, eine stärkere Wechselwirkung mit Volumen, Form und Abbild zu erzielen.

Virtuose Hochglanzoberflächen waren bereits Mitte und Ende der 1920er Jahre in einer Serie fast lebensgroßer Büsten und Vollplastiken aus Pappmaché oder aus durch Elektrolyse mit einer dünnen Bronzeschicht versehenem Gips („Galvanoplastiken“) stärkerer Vereinfachung und Unmittelbarkeit gewichen. Die derbe Drallheit von Zirkusartistinnen und Varietétänzerinnen wird hier in pulsierend-pralle Volumina mit minimal artikulierten Gesten und Merkmalen überführt, die im Gesamtfluss der Kontur gerinnen. Die Oberfläche der Galvanoplastiken geht nicht in einer eleganten Glätte unter, sondern wird durch sich überkreuzende Feilspuren belebt. An den Kanten der Büsten sind häufig poröse Gips- oder Bronzeschichten erkennbar – einer männlichen Figur mit Zylinder fehlt gar die Oberseite seines Hutes. Gleichermaßen von den Zeichnungen Georges Seurats und von Spielzeugfiguren beeinflusst, verfügen diese Arbeiten über eine ruhige, geradezu olympische Üppigkeit, die sich weder durch ihre extreme postume Vergrößerung in Marmor brechen ließ (wie im New York State Theater im Lincoln Center zu sehen), noch durch die von Nadelman selbst in den 1930er Jahren zunächst in Terrakotta und später in Gips vorgenommene extreme Verkleinerung. Die Gipsskulpturen, deren Höhe zwischen 15 und knapp 23 cm. schwankt, rekapitulieren die rundlichen Volumina ihre unmittelbaren Vorläufer und verschmelzen diese gleichzeitig mit den schlanken Proportionen der Tanagra-Figuren – während man zuweilen auch Referenzen an klassisch griechische Skulpturen und Michelangelo erkennen kann. Mit seiner gewohnt unaufdringlichen Ironie wurde Nadelmann so zum Archäologen seiner selbst.

Mit seiner archäologischen Selbsterforschung parodierte und imitierte Nadelman jene Antike, die er so zielstrebig zu validieren suchte. Bei den in den 1930er Jahre entstandenen Figuren handelt es sich um bewusst als solche erschaffene Fragmente, die die fragmentierenden Akte der Zeit vorwegnehmen und nachahmen. Fast alle diese Figuren weisen Standposen auf, doch keine ist freistehend; die Skulpturen, denen zuweilen ein oder gar zwei Extremitäten sowie klare Gesichtszüge fehlen und die sämtlich in ihrer Weißheit nackt sind, imitieren von der ursprünglichen Originalbemalung befreite griechische Marmorfragmente und offenbaren gleichzeitig die für Gips charakteristische pulverige Sprödigkeit. Die Gesichtszüge einiger Figuren wurden vollständig durch diagonale Feilspuren getilgt, die sich in die weiche Gipsgussoberfläche eingegraben haben und wie die vergrößerten Schraffuren der Galvanoplastiken wirken. Obgleich sämtliche Figuren unverkennbar weiblich sind, weisen sie durch die schlanke, aufrechte Haltung und die starke Ausprägung des Kopfes (häufig mit verschiedenen Variationen von drapierten beziehungsweise spitzen Tanagra-Kopfbedeckungen) oft eine phallische Gestalt auf, welche das Androgyne in der Kunst widerspiegelt – Venus und Priapus hüllen einander ein und werden zum anderen.

Trotz ihrer amorphen Fragmenthaftigkeit sind alle diese Figürchen inhaltlich und formal so unversehrt wie komplex. Ihre fülligen Volumina wirken niemals statisch oder schwerfällig, sondern werden durch anmutig sich verjüngende Glieder aufgelockert und durch die Rundungen und Drehungen, die geschmeidig aus dem zentralen „Hauptkörper“ heraus- und in ihn hineinfließen, gewissermaßen in Zeitlupe versetzt. Die homogene und fast bis zur Abstraktion reichende Verschwommenheit erhält ein belebendes Gegengewicht in Form stenografischer Gesten und Details, die jeder Figur eine prägnante Persönlichkeit und Einzigartigkeit verleihen. Durch minimale materielle Unterschiede entsteht mal ein schüchternes Lächeln, mal ein anzügliches Grinsen. Durch geringste Variationen des Winkels biegt sich ein leicht erhobener Arm bei einer Figur zu einer mütterlichen Begrüßung, bei einer anderen zur Schwung holenden Drehung einer Tänzerin und bei einer dritten zu einem koketten Winken. Die winzigen Gesten von Nadelmans Fingern, die in den die Augen markierenden kleinen Einkerbungen, den gekneteten feinen Haarlöckchen und den herausgezogenen und abgekniffenen Gliedern und Kopfbedeckungen deutlich werden, verleihen den Figuren das reale Maß jener Hand, die sie aus dem weichen Plastilin formte. Wie die meisten Arbeiten Nadelmans gewinnen auch diese Körper Leben und Festigkeit vermittels der relativ flachen Behandlung der Oberfläche, durch die die Form zu einer einheitlichen volumetrischen Membran wird. Ein tieferer Eingriff in die Modelliermasse würde ihre Dichte zu sehr betonen und so die fließende Klarheit von Kontur und Rhythmus behindern. Die reduzierte rhythmische Einfachheit der Grundform verleiht jeder noch so kleinen Figur eine luftige Monumentalität und verwandelt sie in eine Göttin der Fingerfertigkeit.

Zahlreiche Figuren weisen die drallen Proportionen von Puppen auf und wirken wie kokette Baby-Bacchantinnen. Die deutlich sichtbaren Gussnähte und die beim Gießen der Gipsmasse in die Form scheinbar verschleierten Gesichtszüge vereinigen antike Anmut mit der ehrlichen Unmittelbarkeit vieler während der vorletzten Jahrhundertwende entstandener gusseiserner Spielzeuge und Parkbänke aus Nadelmans eigener Sammlung. [...] In der Zeit von etwa 1940 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 verloren die Baby-Bacchantinnen die meisten Spuren der Antike und wurden, was Haltung und Technik betrifft, immer gegenwärtiger und unverblümter. Diese delinquenten Püppchen stolzieren, schmollen und posieren in einer Welt, deren Götter und Göttinnen inzwischen von den Hügeln Hollywoods herabstrahlen. [...] Shirley Temple spielt Mae West, die wiederum eine beschädigte Tanagra-Figur spielt [...].

Nadelman schuf Ikonen im Zeitalter des Ikonoklasmus. Mittels der sonoren Rhythmen seiner Körper fing er den Dunst der Entrücktheit ein und ritualisierte ihn gleichzeitig. Das Ergebnis sind figurative Traum(emp)fänger und -sender. Puppen sind Spiegel, die die Tagträumereien des Alters und der Jugend gleichermaßen reflektieren; in Nadelmans und unseren Händen werden sie zu idealen Kunst-Surrogaten. Diese Puppen verfügen über eine weit weniger endgültige Form als von Nadelmann beabsichtigt. Ebenso wie die von ihnen dargestellte Epoche verkörpern diese Figürchen mit ihrer kopflastigen Plumpheit und unentschlossenen Oberfläche die Irrungen und Wirrungen des Willens zur Form. Ihre Rückseite weist eine grobe geknetete Oberfläche auf – eine Materialmasse, die den Beginn markiert und nur graduell und partiell dem Druck, Zupfen und Kneten von Nadelmans Fingern nachgab und in einem Verschmelzen von Gesicht und Torso zu fließenden, instabilen, gedrungenen Beinen wurde. Diese Ökonomie der Geste sowohl des Formens als auch der geformten Figur führt in ihrer Vorläufigkeit zu entwaffnend individuellen Figuren. Man muss sie nur leicht drehen, um sie wieder plump wirken zu lassen. Wie die Starlets, die er verkörpern soll, reagiert auch der Gips auf das Licht und saugt es auf. Die undeutlichen Gesichtszüge und Profile fließen geradezu über vor Ausdruck und Schärfe, wenn man sie ins Licht dreht; sobald sie jedoch wieder in den Schatten treten, flimmern sie vor Unschärfe.“

1909 Nadelmans erste Einzelausstellung in der Galerie E. Druet, Paris. / 1910 Abdruck eines Textes von Nadelman in der Zeitschrift Camera Work. / 1911 Ausstellung in der Galerie Wm. B. Paterson in London; Helena Rubinstein kauft sämtliche Arbeiten der Ausstellung. / 1914 Umzug nach New York. / 1915 Martin Birnbaums erster Artikel in englischer Sprache über Nadelmann erscheint in der Zeitschrift International Studio. / 1915 Ausstellung in der New Yorker 291 Gallery von Alfred Stieglitz. / 1917 Ausstellung bei Scott & Fowles, New York. / Freundschaft mit Marcel Duchamp und den Stettheimer-Schwestern, vor allem mit Ettie Stettheimer. Florine Stettheimer porträtiert Nadelman in “Picnic at Bedford Hills“ (1918) und in “Lake Placid“ (1919). Eine Skulptur von Nadelman ist auf Florine Stettheimers Bild “Flowers with Aphrodite“ (ca. 1915) zu sehen. Nadelman wird in Ettie Stettheimers Roman Love Days (1923) erwähnt. Nadelman erwirbt das Anwesen Alderbrook in Riverdale außerhalb von New York. / 1929 nach dem New Yorker Börsenkrach, bei dem Nadelman den größten Teil seines Vermögens verliert, endgültiger Umzug nach Riverdale. / 1948 Lincoln Kirstein organisiert die Ausstellung “The Sculpture of Elie Nadelman“ im New Yorker Museum of Modern Art. / 1966 der Bildhauer H.C. Westermann (1922-1981) widmet Nadelman die Skulptur, “Homage to American Art (Dedicated to Elie Nadelman)“. / 1984 der Fotograf Peter Hujar (1934-1987) besucht Alderbrook und fotografiert Nadelmans Gipsskulpturen in dem das Haus umgebenden Garten.
 

Tags: Marcel Duchamp, Peter Hujar