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DANIEL LERGON
 

"ÜBER GRÜN" VON PETER LODERMEYER

„Grün“ – das wäre wohl, ganz kurz und knapp, die Antwort, die man am häufigsten erhielte, wenn man Besucher der jüngsten Daniel-Lergon-Ausstellungen danach fragte, wie denn die neuen Bilder des in Berlin lebenden Malers aussehen. Dass sie grün sind, charakterisiert sie in der Tat in hohem Maße, entfalten sie doch geradezu ein Übermaß, ja einen Exzess an Grün, insbesondere, wenn man eine größere Anzahl dieser Arbeiten in Ausstellungen nebeneinander sieht. Ihr Grünsein verbindet die einzelnen Bilder über Formatunterschiede und Wandabstände hinweg miteinander und lässt sie wie einzelne Ausschnitte oder Einblicke in eine ganz eigene, durchaus fremdartige Bildwelt erscheinen. Dass Ölfarbe als Material im Zentrum seiner Bilder steht, ist ein überraschend neues Moment in Lergons Werk. Wenn man seine früheren Arbeiten ebenso prägnant mit ein, zwei Worten charakterisieren wollte, würde man bei seinen früheren Gemälden auf retroreflektiven Leinwänden wohl zunächst deren Veränderlichkeit in der Anschauung hervorheben, bei den Wandarbeiten mit Metallpigmenten die stumpfe, trockene Materialität der Farbsubstanzen und bei seiner Malerei mit angesäuertem Wasser auf Metallgrundierung die sich aus den chemischen Prozessen ergebenden Strukturen. Die grünen Bilder haben allerdings sowohl mit den retroreflektiven Gemälden wie auch mit denen auf Metallgrundierungen gemeinsam, dass auch bei ihnen der Malgrund eine herausragende Rolle spielt, was schon im Titel „Unter Grün“ angedeutet ist. In den früheren Bildern bestimmte der Einfluss des Hintergrunds – der retroreflektiven Leinwand bzw. der Metalle – physikalisch beziehungsweise chemisch hervorgerufene Licht- und Farbeffekte. Bei den grünen Bildern dient der gewählte Malgrund als eine Art Reflektor, der den Grad der variierenden Dichte des aufgetragenen Malmaterials zur Erscheinung bringt.

Nach seinen Untersuchungen ungewöhnlicher Werkstoffe und Oberflächen steht in Lergons grünen Bildern, die seit Ende 2015 entstehen, Farbe als Farbe im Mittelpunkt – anschaulich gemacht in einem klassischen malerischen Medium: Öl auf Leinwand. Es scheint, dass der Künstler die Erfahrungen aus seinen jahrelangen Experimenten mit neuen Malmitteln und Bildträgern auf eine traditionelle Malweise anwenden und austesten wollte. Tatsächlich erforscht er in seinen grünen Bildern die Ölfarbe eben auch als Material und keineswegs nur als Kolorit; die Farbe Grün ist bei ihm sowohl colour als auch paint. Die koloristischen Abstufungen und Helligkeitsnuancen, die in diesen Bildern verblüffende Wirkungen zeigen, ergeben sich nämlich – das bemerkt man erst auf den zweiten, genaueren Blick – unmittelbar aus den Materialeigenschaften der einzigen verwendeten Ölfarbe: Phthalogrün. Dieses spezifische Grün wird durch die unterschiedliche Dichte des Auftrags hervorgehoben, wobei seine Wirkungsweise erheblich davon abhängt, ob sie auf weißem oder neongelbem Untergrund appliziert wird.

Man mag als Betrachter zunächst kaum glauben, dass es wirklich nur eine einzige Farbe ist, die in diesen Bildern zum Einsatz kommt. Ihre dunkelsten Partien sind keineswegs schwarz, wie es zunächst den Anschein hat, sondern ein tiefes, samtiges Dunkelgrün. Es gehört zu den Materialeigenschaften des Phthalogrün, dass es, je nach Art und Dicke des Farbauftrags, eine ungewöhnlich breite Skala an Helligkeitsabstufungen zwischen jenem Beinaheschwarz bei pastosem und einem giftig leuchtenden, gelbstichigen Grünton bei stark verdünntem Farbauftrag hervorbringt. Die Möglichkeiten und unterschiedlichen Farbabstufungen des Malmaterials werden herausgearbeitet, die Farbe gewissermaßen „geöffnet“, indem ihr Nuancenreichtum ausgebreitet wird. Da Lergon die Bandbreite an Helligkeitswerten mithilfe einer reichen Binnendifferenzierung seiner Motive voll ausschöpft, kommt man kaum auf den Gedanken, diese Bilder unter der Rubrik „monochrome Malerei“ abzuhandeln. Sie erscheinen aufgrund dieses Nuancenreichtums „multimonochrom“, wie man in Anlehnung an den Ausstellungstitel multimono (Galerie Christian Lethert, Köln, 2016) sagen möchte, zudem arbeiten sie mit dem elementaren Prinzip der Gestaltpsychologie, das in der monochromen Malerei üblicherweise sorgsam vermieden wird: dem Gegensatz von Figur und Grund. Die Vielfalt der Helligkeitswerte in Lergons Bildern und die sich aus ihnen ergebenden illusionistischen Effekte rufen eher den traditionellen Begriff des Chiaroscuro in Erinnerung als den modernen der Monochromie. Es ist ein überaus reizvoller Gedanke, Lergons grüne Bilder als eine Neuinterpretation der Helldunkelmalerei zu sehen, wie sie die Kunst des Barock – man denke etwa an Caravaggio oder Rembrandt – weithin prägte. Das Herausmodellieren der Motive mit Licht und Schatten ist hier ganz auf die unterschiedlichen Grünwerte verlagert und noch enorm gesteigert, wo Lergon statt einer weißen eine neongelbe Grundierung verwendet. Dadurch wird die Licht- und Tiefenwirkung der Bilder erheblich verstärkt. Das Gelb kommt nicht als zweite Farbe zum Einsatz, sondern als lichthaltiger Fonds, der die grüne Farbe durchdringt, weiter ins Gelbspektrum treibt und dabei ihre Strahlkraft verstärkt. Nur an den schmalen Bildseiten kann sich das Gelb als solches entfalten und aufgrund der Reflexion des Umgebungslichts eine leuchtende Aura rund um die Bilder an die Wände zaubern.

Das Herausmodellieren der Bildmotive – falls man überhaupt von „Motiven“ sprechen kann – geschieht durch den Einsatz verschiedener Instrumente beim Auftragen und Verteilen der Farbe. Je nachdem, ob und wie Lergon die Farbe mit schmalem Pinsel appliziert, mit Schwämmen aufträgt oder mit Rakeln und Spachteln verwischt bzw. wieder von Fläche schabt, ergeben sich deutliche Unterschiede in Helligkeit und Textur, sodass sich eine verwirrende Wirkung von Tiefenillusion und Räumlichkeit einstellt – eine Räumlichkeit, die gleichwohl nicht homogen, sondern inkonsistent ausfällt und das Auge mit der Gestaltbildung, das heißt mit dem Versuch, das Gesehene in eine stimmige räumliche Ordnung zu bringen, beschäftigt (und zugleich überfordert). Da Lergon diesen „Motiven“ immer ausreichend unstrukturierte, homogen mit der Rolle aufgetragene Flächen zur Seite gibt, erscheinen sie stets als Figuren vor einem unbestimmten Hintergrund. Bei den gelb grundierten Leinwänden führt Lergon einen Unterschied zwischen größeren und kleineren Formaten ein. Für die großen Bilder wählt er einen dunklen Ton, vor dem sich die „Figuren“ lichtdurchtränkt abheben, bei den Kleinformaten hingegen ist das Hintergrund-Grün nur dünn auf die leuchtendgelbe Grundierung aufgetragen, so dass die dunkleren „Figuren“ davor umso plastischer erscheinen.

Grün ist eine Farbe, die man fast unvermeidlich mit Pflanzen, Natur und Landschaft in Verbindung bringt. Doch das Phthalogrün, das Lergon verwendet, wirkt eigentümlich kühl und bringt in die Naturvorstellung eine gewisse, begrifflich schwer zu fassende Fremdheit ein, eine emotionale Dissonanz. Grund dafür ist sicherlich die Tatsache, dass das Pigment von Phthalogrün, nämlich Kupferphthalocyaningrün, künstlich erzeugt ist. Es ist ein Produkt der chemischen Industrie, das erst seit 1938 hergestellt wird. Schaut man sich die komplexe chemische Strukturformel an, so sieht man, dass im Mittelpunkt der Moleküle jeweils ein Kupferatom sitzt, das von Natrium- und Chlorringen umgeben ist. So steht das Farbmaterial mit seinem Kupferanteil also auch chemisch in der Nähe von Lergons früheren Arbeiten mit Kupfergrundierung.

Die schiere Präsenz der eigentümlichen Farbigkeit des Phthalogrün löst beim Betrachten unweigerlich inhaltliche Vorstellungen aus. So kann man die Arbeiten auf weißer Grundierung zum Beispiel mit Unterwasserwelten assoziieren, die auf neongelbem Grund vielleicht eher mit Nordlichtern, mit Naturbereichen also, die dem menschlichen Auge meist verborgen bleiben. Die natürliche Künstlichkeit oder künstliche Natur der Bildwelten, die Lergon mit seinen phthalogrünen Gemälden eröffnet, versetzt die Betrachter in einen emotionalen Zwiespalt von Faszination und Fremdheit. Die Vielfalt der Formen, die sich in diesen Gemälden zeigen, eröffnet ansatzweise immer wieder Anhaltspunkte für figurative Lesarten: Man glaubt zuweilen pflanzen- und tierhafte Figurationen zu erkennen, vielleicht Blütenkelche, Tentakel, Blätter von Schlingpflanzen oder Seetang oder auch Flügel und Beine von Tieren und hier und da sogar Andeutungen menschlicher Körper, scheitert jedoch stets mit dem Versuch, eine konsistente Bildlichkeit innerhalb eines Gemäldes zu etablieren. In der Betrachtung oszillieren die Motive stets zwischen fragmentarischer Figuration und der bloßen, im Farbmaterial bewahrten Spur des Malprozesses selbst. Es gehört zu den faszinierenden Aspekten dieser Malerei, dass man mit ihr als Betrachter zu keinem Ende kommt.