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CONNY BECKER
 

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Fliegenpilz (Amanita muscaria). Illustration von Albin Schmalfuß, 1897
Stalldunst im Hamburger Bahnhof, Berlin.
Foto: Verein der Freunde der Nationalgalerie
In Berlin ist das Museum für Gegenwart nicht wieder zu erkennen. Der Künstler Carsten Höller, der sich gern mit wissenschaftlichen Phänomenen auseinandersetzt, hat Tiere in die Institution geholt und mit ihrer Hilfe ein Experiment zur Gewinnung eines Zaubertranks geplant.


Stalldunst schlägt einem entgegen, dann Kinderlärm und das Zwitschern von Kanarienvögeln. All das will so gar nicht zu einem Museumsbesuch passen und doch findet man diese ungewöhnliche Situation derzeit im Hamburger Bahnhof vor, dem Berliner Museum für Gegenwartskunst, dessen Haupthalle in ein Wildgehege verwandelt scheint. Oder in einen surrealen Märchenwald. Oder eine Versuchsanordnung?

Letzteres wird jedenfalls vom Künstler Carsten Höller behauptet, der anstelle von Kunstwerken im klassischen Sinn mit zwölf Rentieren, 24 Kanarienvögeln, acht Mäusen und zwei Fliegen aufwartet. Der Mitte der 90er Jahre im Bereich Phytopathologie habilitierte Agrarwissenschaftler ist in seiner Ausstellung dem Soma auf der Spur, womit nicht der (Zell-)körper gemeint ist, sondern ein gleichnamiger sagenumwobener Opfertrank der vor 4000 Jahren lebenden altindischen Veden. Dieses berauschende Göttergetränk wird im sogenannten Rigveda, der ältesten Textsammlung des Hinduismus, bedichtet und gleicht in seiner geheimen Zusammensetzung sowie den um ihn rankenden Mythen dem Stein des Weisen oder Lebenselixier der Alchemisten. Offenbar wird bezüglich der Zusammensetzung aus den alten Schriften nur deutlich, dass es sich bei Soma um eine Pflanze aus den Bergen handelt. Diskutiert wurden diverse alkoholische Gebräue, Ephedra-Pflanzen oder Pilze wie die Psilocybin-haltigen Kahlköpfe und der ebenfalls psychotrop wirkende Fliegenpilz.

Bereits 1968 hatte der Ethnomykologe R. Gordon Wasson den auffallend gemusterten Pilz Amanita muscaria als Soma“pflanze“ vermutet und Höller greift dessen These auf beziehungsweise spinnt den Gedanken weiter. Dabei geht er jedoch nicht gemäß der Schriften vor und macht diverse Pressungen, noch bedient er sich Destillationsapparaturen in alchemistischer Manier. Vielmehr nutzt er Rentiere als eine Art Filter für das Soma, das heißt er füttert sie angeblich mit Fliegenpilzen, die laut Informationen des Museums zum natürlichen Nahrungsspektrum der Tiere gehören. Dann lässt er den „somahaltigen“ Urin sammeln, der in der Ausstellung wie die getrockneten Pilze sichtbar in Kühlschränken gelagert wird.

Musealer Doppelblindversuch

Um zu prüfen, ob man auf diese Weise tatsächlich den Göttertrank gewinnen kann, bedient sich Höller ganz gemäß präklinischer Studien verschiedener Tierversuche. Er teilt dazu die Ausstellungshalle der Länge nach in zwei Hälften ein, so dass zwei getrennte Gehege für je sechs Rentiere entstehen, die doppelblind entweder über die dreimonatige Ausstellungszeit den Pilz beigemischt oder nur normales Futter bekommen sollten. In Phase zwei erhalten die auf beiden Seiten in jeweils identischen Käfigen gehaltenen Mäuse, Vögel und Fliegen hypothetisch den Urin der Hirsche. Die letzte Instanz bildet schließlich der Besucher, der von einer Tribüne aus, teils durch Monitore unterstützt, das sich bewegende Bild betrachten kann und Unterschiede im Verhalten der Tiere ausmachen soll. Wer diese eigentümliche vergleichende Beobachtungsstudie auch nachts fortsetzen will, kann gar für 1000 Euro inmitten der durch überdimensionierte Pilzskulpturen surreal anmutenden Versuchsanordnung in einem erhöhten Hotelbett übernachten, inklusive Intercontinental-Service und nächtlicher Führung durch das Museum (die Plätze waren schnell ausgebucht).

Doch wie ist diese Ausstellung einzuordnen? Ist es nicht Tierquälerei, Tieren psychotrope Pilze oder den Urin einer anderen Spezies zu verabreichen? Gewiss, doch dies geschieht im Hamburger Bahnhof gar nicht. Denn der erläuternde Museumstext beschreibt, liest man genau, ein hypothetisches Experiment, das nur in der Imagination der Besucher vollzogen wird. Dies geht bei der verbreitet oberflächlichen Wahrnehmung unter, sodass sich das Museum etwa im Internet vehemente Vorwürfe gefallen lassen muss. Was das Halten von Rentieren in einem musealen Gehege betrifft, so sei es zwar in den letzten Tagen etwas zu warm für die Hirsche gewesen, sagte eine Tierpflegerin gegenüber der PZ, doch seien sie in einem eineinhalb Jahre langen Training auf die Situation gut vorbereitet worden. Dennoch wirft die Präsentation von lebenden Tieren im Museum sicher auch die Frage nach Grenzen sowie nach dem Verhältnis von Kunst und Natur im Allgemeinen auf.

Die Ausstellung zeigt aber noch mehr, nämlich zwei Tendenzen, die sich seit einiger Zeit in der Gegenwartskunst abzeichnen: Die häufige Verknüpfung beziehungsweise Thematisierung der sich immer mehr spezialisierenden Wissenschaften mit und in der Kunst sowie deren Nähe zum Spektakel. Vor allem aus dem angloamerikanischen Raum sind
spektakuläre Projekte im Bereich der zeitgenössischen Kunst bekannt – das Paradebeispiel bildet die alljährliche Bespielung der Turbinenhalle der Londoner Tate Modern, in der Höller vor vier Jahren rund 50 Meter lange Rutschen als potenzielle Fortbewegungsmittel für den Stadtraum austestete. Wie in London, so macht auch seine Berliner Ausstellung vielen Besuchern einfach Spaß, sie ist schon jetzt ein großer Besuchererfolg, zumal sie auch kinderfreundlich ist. Wenn auch nicht die Zusammensetzung des Soma, so hat Höller zumindest für seine Kunst offenbar eine erfolgreiche Rezeptur gefunden.

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Carsten Höller: Soma, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart,
Invalidenstraße 50-51
10557 Berlin, www.hamburgerbahnhof.de, bis 6. Februar 2011, ermöglicht mit Unterstützung der Schering Stiftung.

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veröffentlicht in der PZ 2/2011 unter http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=36464&no_cache=1&sword_list[0]=conny

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